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Der Raum als „dritter Erzieher“

Prof. Dr. Tassilo Knauf


Die Stadt Reggio Emilia aus der gleichnamigen Provinz im Norden Italiens macht es vor – Räumlichkeiten von Kindertageseinrichtungen können wichtige pädagogische Funktionen übernehmen. Prof. Dr. Tassilo Knauf gibt Einblick in die Bedeutung des Raums im Kontext der Reggio Pädagogik.



“Der Raum als dritter Erzieher” ist eine viel zitierte Metapher (vgl. Bauer 2014, S. 7). Sie ist in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Reggio Emilia als zentrales Element des pädagogischen Ansatzes entwickelt worden, der sich nach dieser norditalienischen Stadt benennt. Die Reggio-Pädagogik möchte die Kinder in ihrer Rolle als Autor:innen ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer eigenen Interessen, Kompetenzen und Stärken unterstützen.

Wie die erwachsenen Erzieher:innen erfüllt der Raum in den über 40 städtische Kindertageseinrichtungen in Reggio für Kinder zwei Hauptaufgaben: Er gibt Kindern Geborgenheit (Orientierungs- und Beziehungssicherheit) und ist zum anderen Herausforderung (Stimulation). Der Raum ist in Reggio Teil des pädagogischen Konzeptes (vgl. Reggio Children 2002, S. 40). Er umfasst allerdings mehr als nur die Räume und ihre Ausstattung. Zum pädagogisch wirksamen Raum gehört auch das ganze von den Kindern erschließbare Umfeld: die Straßen, Plätze, öffentlichen Gebäude ebenso wie die Reste von Natur: Parks, Gärten, Äcker, Wiesen, Teiche und Wasserläufe. Mit ihrer Präsenz im Alltagsleben der Stadt bringen sich Kinder in die Welt der Erwachsenen ein und kommunizieren mit ihr.



Die Öffnung des Kita-Alltags zum Leben in der Stadt und zur Erwachsenenwelt wird durch die Architektur vieler reggianischer Kindereinrichtungen zum Ausdruck gebracht: durch große, tief heruntergezogene Fensterflächen werden optische Barrieren zwischen drinnen und draußen abgebaut. „In Reggio sind Kindergärten und Krippen eine Art Aquarium: Man kann jederzeit hinaussehen, und von draußen haben alle Einblick, um zu verstehen, was da drinnen geschieht“ (Sommer 1988, S. 379).


Auch die Gestaltung des Eingangsbereichs fördert die Öffnung der Einrichtung zum städtischen Umfeld: „Der Eingangsbereich ist die Visitenkarte der Einrichtung (…) Alle Besucher:innen sollen sich eingeladen fühlen, das Haus zu betreten“ (Krieg 1993, S. 37). Mitarbeiter:innen und Kinder stellen sich hier mit Fotos vor; Wandzeitungen und Projektdokumentationen können auf die Arbeit und das Leben in der Einrichtung neugierig machen. „Die Eingangshalle soll aber nicht nur Informationen vermitteln (…) Mit einem Gefühl des Wohlbehagens sollen Kinder wie Erwachsene (Erzieher:innen, Eltern, Großeltern, Bürger:innen und Verantwortliche der Stadt, auswärtige Besucher:innen) die Einrichtung betreten und Interesse gewinnen, auch die anderen Räume der Kita aufzusuchen“ (Knauf 1995, S. 18). Zu einer solchen aktivierenden Atmosphäre tragen vor allem Bilder und Pflanzen bei.

Auch innerhalb der Einrichtung entwickelt sich ein interaktives, dialogisches Verhältnis zwischen den Kindern, aber auch zwischen Erwachsenen und dem räumlichen Ambiente. Insofern übernimmt der Raum die Funktion eines „dritten Erziehers“ neben den beiden Erzieher:innen, die jeder Gruppe zur Verfügung stehen (vgl. Göhlich 1993, S. 67 ff.). Räume übernehmen somit verschiedene pädagogische „Rollen“ in den reggianischen Kindereinrichtungen.


Sie sollen

  • eine Atmosphäre des Wohlbefindens schaffen, die sowohl Geborgenheit vermittelt als auch aktivierend wirkt

  • die Kommunikation in der Einrichtung stimulieren

  • gegenständliche Ressourcen für Spiel- und Projektaktivitäten bereitstellen.

Mit dem Anspruch der reggianischen Kindereinrichtungen, eine Atmosphäre des Wohlbefindens für Kinder (und Erwachsene) zu schaffen, wird Bezug auf die radikale Kindorientierung Janusz Korczaks genommen, der „das Recht des Kindes auf den heutigen Tag“ einforderte (vgl. Dreier 2010, S. 131). Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass sich Raumgestaltung an den Bedürfnissen der Kinder orientieren muss.

Dazu gehört:

  • Sich zurückziehen zu können, um Geborgenheit, Stille, Alleinsein, Wärme und Nähe eines einzelnen Partners oder weniger Partner zu erfahren

  • Motorik in schnellen Bewegungen erleben zu können

  • Anregungen zum Tätigwerden durch Gegenstände mit Aufforderungscharakter zu bekommen (vgl. Österreich 2007, S. 26 )

  • Durch die Sichtbarkeit der Aktivität anderer zur Kontaktaufnahme, zum Mitmachen oder zum imitativen Handeln eingeladen zu werden

  • Die Ästhetik, die Sinnlichkeit des Raumes, insbesondere seine Farbigkeit, seine Proportionierung, die Verknüpfung zu Nachbarräumen, seine abgestuften Helligkeitsgrade und seine gegenständliche Ausstattung, je nach situativ-individueller Stimmungslage, einmal als Stimulans, ein anderes Mal als Beruhigung zu erleben

  • Räume durch Mitgestaltung, insbesondere durch die Ausstattung mit eigenen Werken, persönlich und vertraut, gewissermaßen zu etwas Eigenem zu machen.

In Reggio werden verschiedene Mittel genutzt, um diese Bedürfnisse aufzugreifen. Dazu gehört z. B. die räumliche Vielgestaltigkeit der Einrichtungen, in denen sehr unterschiedlich proportionierte und unterschiedlich helle Räume zu verschiedenartigen Tätigkeiten stimulieren. Bedeutsam ist des Weiteren die klare, aber nicht starre Akzentuierung der Räume: Neben der Eingangshalle und den differenzierten Raumkomplexen für die einzelnen Gruppen verfügen die meisten Tageseinrichtungen über ein zentrales großes Forum, die „Piazza“, die wie der Marktplatz einer spätmittelalterlichen Stadt Herzstück des Gemeinwesens ist und damit Bedeutung und Lebendigkeit sozialer Bezüge in der Einrichtung konkret zum Ausdruck bringt (vgl. Krieg 1993, S. 37). Ein weiteres wichtiges Charakteristikum in der Raumstruktur reggianischer Einrichtungen ist das Atelier, in der eine Werkstattleiterin oder ein Werkstattleiter („atelierista“) Kinder beim Ausprobieren und Erweitern der individuellen sinnlichen Ausdrucksmöglichkeiten („die 100 Sprachen der Kinder“) unterstützt.

Das Atelier ist nicht nur Markenzeichen der Reggio-Pädagogik, sondern auch Herzstück ihres Raumkonzepts.

Es ist vielgestaltiger Ort für Erfahrungen und Herausforderungen zum Wahrnehmen, sich Ausdrücken, Experimentieren und Zeigen (vgl. Breyhan 2014). Jeder Gruppe ist vielfach zusätzlich ein „Miniatelier“ als Arbeits- und Magazinraum zugeordnet. Entsprechend der besonderen kulturellen und sozialen Bedeutung des Essens speziell in Italien sind die Speiseräume als offene Kinderrestaurants gestaltet, die sich oft an die Piazza anschließen, sich aber auch zur Küche hin öffnen. Diese gehören ebenfalls zu den Aktionsbereichen der Kinder, in denen sie etwas ausprobieren, aber auch durch Imitation lernen können.

Beeinflusst durch das Konzept der „offenen Arbeit“ haben sich vor allem in Deutschland viele reggio-inspirierte Kitas dazu entschlossen, den Kindern Funktionsräume anzubieten, entweder in der Koppelung von Gruppen- und Funktionsräumen oder in der Ausgestaltung gruppenübergreifender, eigenständiger Funktionsräume mit Werkstattcharakter.

Funktionsräume fordern heraus zum Wahrnehmen, sich Ausdrücken, Experimentieren und Zeigen der Ergebnissen des eigenen Tuns (vgl. Beek 2007, S. 118).

Sie sollen den Kindern erlebnisreiche Erfahrungen und Momente der Versunkenheit ermöglichen: ungewöhnliche Sinneserfahrungen, Stolz durch die Übernahme attraktiver Rollen, Erfolgserlebnisse durch Produktion selbsterfundener Gegenstände oder durch selbst gemachte Entdeckungen. Unter den Funktionsräumen gibt es Klassiker wie das Atelier, den Bauraum und den Rollenspielraum. Daneben gibt es weitere räumliche Funktionszuweisungen wie den Forscherraum, den Wahrnehmungsraum, die Bibliothek oder den Medienraum und die Schreibwerkstatt.


Die Räume zeichnen sich durch Offenheit und Transparenz aus (vgl. Knauf 1995, S. 20 f.). Kinder werden aufgefordert, die ganze Einrichtung (und ihr Umfeld) zu erkunden, um durch das Entdecken immer wieder von Neuem Wissbegierde als eine wichtige Grundhaltung zu stabilisieren und um (immer wieder neu) Orte, Partner und Aktivitäten zu finden, von denen sie sich persönlich angesprochen fühlen. Durch Briefkästen für jedes Kind und durch „Schlauchtelefone“ wird die Bereitschaft der Kinder zu kommunizieren noch verstärkt.

Als Ressourcen und Impulse für das Stimulieren von Kinderaktivitäten werden in den verschiedenen Räumen Geräte (vom Spiegelzelt bis zur Webcamera), ästhetische Objekte, zum Teil von den Kindern selber hergestellt, vor allem aber vielfältige Gebrauchs- und Naturmaterialien platziert. Alles ist – mit den montessorischen Grundsätzen der „vorbereiteten Umgebung“ vergleichbar – offen, zugleich wohl geordnet und ästhetisch ansprechend präsentiert und verfügt damit über einen unmittelbaren Aufforderungscharakter zum Aktivwerden. Die Schönheit der Präsentation enthält zugleich die implizite Aufforderung, mit Materialien und ihren Arrangements sorgfältig und behutsam umzugehen.

Die Räume werden von den Kindern mitgestaltet: Die Resultate ihrer Forschungs- und Gestaltungsprozesse sind die wichtigsten Medien zur Ausgestaltung der Räume. Die Räume gewinnen durch die Werke der Kinder ihren spezifischen ästhetischen Charakter und werden dadurch zugleich zu Dokumenten und Spiegeln der Entwicklung der Kinder. Besonders intensiv ist der Mitgestaltungsprozess der Kinder zu Beginn des neuen Kita-Jahres, wenn sie, wie in Reggio üblich, neue Gruppenräume erhalten. Sie überlegen dann, was sie aus ihren alten Räumen mit in die neuen nehmen wollen, um eine Balance zwischen Bewahren und Verändern als Ausdruck ihrer Entwicklung zu finden.

Trotz des insgesamt sehr differenzierten Konzepts der Raumgestaltung in der Reggio-Pädagogik sind Architektur, Ausstattung und Detailgestaltung der reggianischen Einrichtungen bemerkenswert unterschiedlich und unverwechselbar: Räume, die ‚ansprechend’ sind, haben etwas mitzuteilen, vor allem über die Geschichte ihrer Nutzung und über die Personen, die als Gestalter:innen oder Nutzer:innen mit einem Raum verbunden sind.


In Deutschland haben sich nicht wenige Kitas von den Ideen aus Reggio anregen lassen. Mehr als 110 Kitas haben sich auf den Weg gemacht und einen Entwicklungsprozess durchlaufen, an dessen Ende die Anerkennung als „reggio-inspirierte Kindertageseinrichtung“ durch den Verein Dialog Reggio steht.


 

Prof. Dr. Tassilo Knauf ist Pädagoge und gehört im Bereich der Pädagogik der Frühen Kindheit zu den Pionieren. Durch seine Veröffentlichungen hat er die Verbreitung des Ansatzes der Reggio-Pädagogik im deutschsprachigen Raum maßgeblich vorangebracht.

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