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Wie vielfältig sind unsere Bücher?

Ein Interview mit Prof. Dr. Sandra Niebuhr-Siebert


Unsere Welt ist vielfältig – das ist eine Tatsache. Aber unsere Kinder- und Jugendbücher spiegeln diese Vielfalt nicht wider. Einmal im Jahr berät sich deshalb die KIMI-Siegel-Jury, um Neuerscheinungen auszuzeichnen. Die Bücher sollen bunt, realistisch und fantasievoll, aber vor allem ohne Klischees und diskriminierenden Zuschreibungen aus der Welt von Kindern und Jugendlichen erzählen.



Wie ist das KIMI-Siegel entstanden?


Das Siegel ist durch die Aktivist*innen Suse Bauer, Raúl Krauthausen und die Schauspielerin Carina Kühne, die selbst eine Behinderung hat, entstanden. Sie haben sich 2016 zusammengetan und im Rahmen der “Republika” aufgezeigt, dass es kaum Kinderbücher gibt, in denen bestimmte marginalisierte Gruppen vorkommen. [...] Vor diesem Hintergrund haben sie überlegt, wie man auf diese Situation aufmerksam machen kann. [...] Wenn zum Beispiel ein Mädchen mit einer dunklen Hautfarbe keine Prinzessin ist oder bestimmte Familienkonstellationen, wie eine Familie mit zwei Müttern, ein Elternteil ist erkrankt oder leidet an Depression oder oder oder nicht vorkommen, dann sind sie auch nicht. Kinder müssen sich selbst oder solche alltäglichen Lebenssituationen in Büchern auch wiederfinden können. Deshalb haben sie beschlossen, dass wir eine Art Siegel brauchen [...]. Es wurden dann Verlage angefragt, ob sie nicht Bücher haben, auf die es sich lohnt aufmerksam zu machen und die so ein Siegel eben verdient hätten – dann haben sie mit der ersten Jury losgelegt. Das erste Mal wurde das Siegel 2018 verliehen und 2019 habe ich es dann übernommen und seitdem machen wir die Siegelvergabe hier an der Clara-Hoffbauer-Fachhochschule in Potsdam.



Nach welchen Kriterien wird ein Buch bewertet?


Es gibt für jeden Bereich einen eigenen Fragebogen. Im Bereich Behinderung geht es zum Beispiel darum, wie die Behinderung dargestellt wird. Liegt die Behinderung an der Person oder wird sie behindert, indem was die Gesellschaft tut? Muss er/sie sich erklären? Wenn ein Buch empowered, ist es häufig so, dass derjenige, der behindert wird, selber dazu gestärkt wird, aus dieser Situation rauszukommen. Es ist aber auch durchaus möglich, die Barriere, die behindert, abzubauen oder eine Gesamtverantwortung zu tragen. Jeden Bereich der Vielfalt, angefangen beim Klassizismus über ökonomische Verhältnisse bis hin zu Familienkonstellationen schauen wir uns ganz dezidiert an. Es gibt aber quasi ein Grob-Score, bei dem wir uns erstmal fragen: passt das Thema überhaupt zu uns? Manchmal werden auch Bücher eingereicht, wie zum Beispiel eines über die Vielfalt der Vögel. Das ist zwar auch eine Art Vielfalt, aber nicht im Bezug auf Diversity interessant. Es sei denn, ich gehe in eine Verantwortung für den Naturschutz. Dann wiederum ja. Aber allein die Darstellung vielfältiger Tiere reicht hier natürlich erstmal nicht.


Das KIMI-Siegel, ist ein Dialog-Siegel. Das heißt es muss eine Art Aktualität und eine Marginalisierung vorliegen. Es muss sozusagen in dieser Sparte zwischen subversiv, also etwas, was an Wert da ist, zerstören wollen und sich dem widersetzen oder aber perpetuieren. Es muss etwas sein, das thematisch gerade in der Gesellschaft relevant ist. [...] Dann haben wir einen Bereich, den wir Moral nennen. Es soll nämlich keine Moralisierung vorgenommen werden. [...] Der nächste Punkt ist dann: “literarisch ansprechend”. Das bedeutet [...] glaubhafte Perspektivierung, stringent durchgehaltene Perspektiven, Deutungsspielräume für autonome Leser*innen, also dass ich auch selber in die Verantwortung gesetzt werde. [...] Bei uns in Deutschland ist die Gesellschaft noch an einem Punkt, an dem sie sich fragt: wollen wir das wirklich, oder wollen wir das nicht? Das ist genau das - es geht ums Eingemachte. Eine weitere Kategorie sind Bildästhetik und Hörästhetik [...]. Es muss mich etwas berühren, mich beeindrucken, ich muss ins Staunen kommen. Es muss durch die Art, wie es dargestellt ist, irgendwas in mir freigesetzt werden, wo ich das Gefühl habe: oh, das ist ja mal spannend! [...] Zudem geht es um Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation. Da schauen wir eben, ob und in welcher Weise Kinder reagieren und ob das irgendwie zur Diskussion führt.

Wie setzt sich die Jury zusammen?


Wir haben Kinder Jurys, die werden durch unsere Studierenden und durch die Kitas einfach aufgerufen und lesen dann in den Einrichtungen die Bücher. Wir arbeiten jedes Jahr mit 10-15 Kinder-Jurys zusammen. Das sind einfach Kindergartengruppen, die in ihrer Vielfalt sind, wie sie sind. Sie bilden also genau das ab, was wir auch suchen. Dann haben wir freiwillige Jugendliche mit dabei, Kinder und Jugendliche aus stationären Hilfen zur Erziehung, wie Kinderheimen und die Erwachsenen-Jury, zu der die Studierenden und noch eine Handvoll anderer Menschen, teilweise auch mit Marginalisierungserfahrung und auch durchaus Expertisen im Bereich Literaturwissenschaft gehören – so dass man dem Buch in der Bewertung auch durchaus gerecht werden kann. Insgesamt lesen etwa 20 Juror*innen die Bücher. [...]

Wieso ist das Thema Vielfalt/Diversität wichtig für Kinder?


Es geht darum, dass diese Gesellschaft einfach vielfältiger wird. Wir haben immer mehr Möglichkeiten, uns dem, wie wir sind anzuerkennen und wir können Auseinandersetzungen anregen. Bestimmte Gruppen haben gesellschaftliche Privilegien und es gilt diese Privilegien und Machtverhältnisse zu erkennen und Kindern daran eine Teilhabe zu ermöglichen. Diversität bedeutet erstmal Teilhabe von allen Gruppen gleichermaßen - die ist derzeit nicht dargestellt. Das heißt eben Sichtbarkeit in Kinderbüchern durch die Möglichkeit Identitäts-Schablonen anzubieten. Es gibt viele Themen die einfach zu diskutieren sind und Kinderbücher bieten sich da eben an. Wir brauchen diese Bücher, weil wir für uns herausfinden müssen, wer wir sind und wie wir miteinander leben wollen.

Wie nehmen Sie die Bereitschaft war, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?


Erstmal geht die Arbeit ja über die Verlage und da kann man sehen, dass in den letzten Jahren extrem viel passiert ist. 2018 hatten wir 60 Einreichungen, 2019 schon 370 und jetzt haben wir auch schon über 350 Einreichungen. Es gibt also ein wachsendes Bewusstsein für das Thema. Ich habe durchaus auch immer wieder Anfragen, wo schon im Vorfeld gefragt wird, ob ich nicht mal auf ein Manuskript schauen könnte.


Die Bereitschaft der Eltern diversitätssensible Bücher vorzulesen, ist dann vorhanden, wenn sie in bestimmter Weise vom Thema betroffen sind. Zum Beispiel eine Mutter, die alleinerziehend ist und ihren Kindern immer die “heile Welt” von Mutter-Vater-Kind vorlesen muss. Sowas muss auch thematisiert werden und es ist immer gut so etwas über eine Geschichte zu machen. Damit kann ein Buch viel leisten. Wir können quasi erstmal so tun, als würde es gar nicht um mich oder uns gehen.



Welche Rolle spielen dabei pädagogische Fachkräfte und Einrichtungen?


Pädagogische Fachkräfte sind ja die, die die Themen überhaupt einbringen. [...] Bücher setzen sich immer erst dann durch, wenn ich auch Zugänge dazu finde und der Großteil findet dann erstmal keine Zugänge, weil sie mit anderen Buchformaten vertraut sind. Man muss auch schon eine bestimmte kulturelle Bildung haben, um solche Dinge überhaupt wahrzunehmen. Das heißt, hier sind es die Zuläufer, wie die Bibliothekar:innen, Pädagog:innen und Verlage, die das Thema erstmal aufbringen müssen. Für den/die Endverbraucher:in wird es dadurch irgendwann ganz normal, dass er/sie damit konfrontiert wird. Das ist ungefähr so, wie bei Werbeplakaten, wo ja in den letzten Jahren auch viel passiert ist, weil man versucht Diversität, mal besser mal schlechter, abzubilden. [...]



Welches ist Ihr persönliches Lieblingsbuch für Kinder?

*lacht* Also was ich sehr gerne mag, ist natürlich mein eigenes: “Mina entdeckt eine neue Welt”. Da geht es um eine Mina, die die Sprache des Kindergartens nicht spricht - es wird aber nicht gesagt welche. Von diesem ungewohnt Neuem begibt sie sich mehr in eine neue Welt hinein und wächst daran.



Was ich ansonsten gerade sehr beeindruckend finde, ist “Zug der Fische.” In dem Buch geht es um das Thema Euro-Weisen. [...] Es geht also um eine digitale Eltern-Kind-Beziehung - sehr spannendes Thema.




Was wünschen Sie sich für die Zukunft?


Ich wünsche mir Mut und dass wir lernen um Dinge zu ringen! Dass wir uns trauen, auch mal Dinge zu sagen, die im ersten Moment vielleicht weh tun und überraschen und dass es immer wieder neue Themen gibt, an denen wir gemeinsam dran sind. Tatsächlich ist es so, dass wenn wir das Thema gesellschaftlich so richtig in die Mitte geholt haben, so etwas wie das KIMI-Siegel überflüssig wird. Das Siegel soll ja erstmal nur zeigen, dass es da noch etwas gibt, das noch nicht präsent genug ist. [...]


 

Prof. Dr. Sandra Niebuhr-Siebert ist Professorin für Sprachpädagogik und Erzählenden Künste in sozialer Arbeit an der Clara-Hoffbauer-Fachhochschule. Seit 2019 ist sie zudem die Präsidentin der Fachhochschule.


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