Wie halte ich meinen Stress von meinen Kindern fern?
Ein Artikel von Astrid Schroeder
Fachkräftemangel, Unterbesetzung, anspruchsvolle Kunden, wachsende Anforderungen, Wandel und schlechte Planbarkeit: Unsere Arbeitswelt ist in Bewegung und der Druck auf Erwerbstätige steigt vielerorts stetig an. In dieser Arbeitswelt stecken viele Eltern der ca. 11 Millionen Kinder in Deutschland [1] . Kein Wunder also, dass das individuelle Stressempfinden seit Jahren eher zu- als abnimmt (von den Krisenerschütterungen der letzten Jahre einmal ganz abgesehen) und der Wunsch nach Stressreduktion regelmäßig die Liste der Neujahrswünsche anführt [2].
Als Business Coach im Gesundheitswesen betreue ich Ärzt:innen, Pflegekräfte und Physiotherapeut:innen, deren tägliche Herausforderung es ist, ihren Kindern ein schönes und sicheres Umfeld zum Großwerden zu bieten und gleichzeitig ihrer Karriere und anspruchsvollen Arbeit nachzugehen. Die große Angst vieler meiner Klient:innen ist dabei, dass sich ihr persönlicher Stress auf ihre Kinder überträgt.
Ich bin zertifizierter Stresscoach und meine Philosophie ist es, meinen Klient:innen dabei zu helfen, ihre persönliche Stresskompetenz weiterzuentwickeln und sie fit zu machen, mit Stress so umzugehen, dass es ihnen damit (nachhaltig) gut geht. Menschlichkeit lautet dabei das Schlüsselwort. Uns in unserer Menschlichkeit mit unseren Bedürfnissen und auch Limitationen bewusst und liebevoll wahr- und anzunehmen hilft uns, mit uns selbst gut umzugehen.
Ja, unser Stress überträgt sich auf unsere Kinder. Ja, unsere Ansprüche und Zwänge übertragen sich auf unsere Kinder. Aber ja, auch unser positives Mindset und unsere Art, ein gelingendes Leben zu führen, überträgt sich auf unsere Kinder!
Wir können unseren Kindern zeigen, wie Menschlichkeit geht und ihnen damit die Grundlagen mitgeben, um später selbst kompetenter mit Stress umzugehen. Dies ist auch notwendig, denn aktuelle Statistiken zeigen, dass sich durchschnittlich beinahe jeder zweite Schüler durch Stress belastet fühlt [3].
Ich möchte Ihnen 7 praktischen Tipps mitgeben, die sowohl meiner Haltung als Coach, als auch meiner persönlichen Erziehungshaltung entsprechen. Natürlich halte ich sie selbst auch nicht immer alle ein. Das möchte ich ganz realistisch ergänzen (Stichwort: Menschlichkeit).
1. Zusagen einhalten
„Ich komme sofort.“, „Heute Abend waschen wir in Ruhe Deine Haare.“, „Wir gehen am Wochenende Schlittschuhlaufen.“ oder „Das machen wir heute Nachmittag.“ Wer kennt es nicht: Eine Planung wurde erstellt, und dann kommt alles anders. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber das interessiert unsere Kinder wenig. Es wurde etwas angekündigt und das findet nun nicht statt. Enttäuschung macht sich breit, unsere Glaubwürdigkeit als Eltern sinkt und schlimmstenfalls sehen wir uns mit Aussagen wie „Nie machst Du das, was Du versprochen hast.‘“ konfrontiert. Wie können wir das vermeiden? Indem wir uns sehr genau überlegen, was wir für Zusagen machen. Auch wenn wir uns vielleicht am Anfang wie unser eigener Pressesprecher vorkommen, empfehle ich, Zusagen, Versprechen oder Planungsangaben nur zu tätigen, wenn wir sie als sehr sicher einstufen. Ein Zusatz wie „Wenn wir alles erledigt haben …" oder „Wenn wir heute Nachmittag beide Lust haben …" sorgt für Klarheit und Fairness. Schön ist auch die Aussage „Das kann ich nicht versprechen“. Vielen meiner Klient:innen geht es schon besser, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre eigenen Aussagen zuverlässig sind.
2. Es ist selten zu spät für eine gute Reaktion
Mist! Da ist es passiert und uns ist als Eltern ein wirklich blöder Satz entschlüpft. Oder wir sind ausgerastet und haben unsere Kinder ausgeschimpft oder beleidigt. Kurz nach dem Dampf ablassen geht es uns dann leider nicht besser. Das Gegenteil ist der Fall, denn es macht sich ein massiv schlechtes Gewissen breit. Die meisten meiner Klient:innen haben in ihren Elternhäusern nicht kennengelernt, dass sich ihre eigenen Eltern bei ihnen für das eigene Verhalten entschuldigen. Das können wir heute anders machen. Wir können unseren Kindern vorleben, dass es nie zu spät ist, aus einer Situation das Beste zu machen, indem wir uns für unsere eigene schlechte Reaktion entschuldigen. Dabei sollten wir zwischen dem, was wir womöglich klären wollten, bzw. was Stein des Anstoßes war und dem, was unserer Meinung nach an unserer eigenen Reaktion nicht in Ordnung war, trennen. Es kann wirklich rührend sein, wie bereitwillig unsere Kinder uns dann verzeihen.
3. Problematischer „Bullerbü“-Anspruch
Viele meiner Klient:innen beklagen, dass sie in der Gestaltung des Kinderalltags und der Kindererziehung hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleiben. Ich hinterfrage in Coachings dann gerne, an welchen Idealen sich gemessen wird. Das, was mir dann berichtet wird, bezeichne ich in den Gesprächen dann gerne scherzhaft als „Bullerbü"-Ideal. Ich will gar nicht aufzählen, was meine Klient:innen alles von sich und ihren Kindern erwarten. Leider ist mit diesem Ideal keinem gedient, denn es führt vielmehr dazu, dass wir uns den Stress trotz hoher und guter Ziele förmlich noch extra aufladen. Wir messen uns so nämlich an einem (meistens unerreichbaren) Ideal, anstatt uns für das anzuerkennen, was wir für unsere Kinder leisten. Wir benötigen dringend stärkende Gedanken, um nicht in die Anspruchsfalle zu geraten. Und apropos: In Bullerbü haben die Eltern auch gar nicht so viel Zeit für ihre Kinder gehabt! Aber das nur nebenbei.
4. Schulbetreuung positiver gestalten
Viel investierte Zeit, dabei schlecht planbar, mit teilweise unvollständigen Informationen, in Abhängigkeit von der Stimmung und Performance anderer und ohne Erfolgsgarantie – Schulbegleitung ist nicht die dankbarste Aufgabe, aber zweifellos wichtig. Als effiziente Eltern schauen wir dann gerne über den Stoff, extrahieren die vorhandenen Schwierigkeiten und los geht’s. Dieses Mangeldenken beherrscht unser Schulsystem und auch wir Eltern können uns davon nicht freimachen. Wie schaffen wir es, dass wir unseren Kindern ein stärkendes Gedankengut mitgeben, sie ihre Stärken sehen lassen und gleichzeitig den Anteil der positiven Stimmung steigern? Ich empfehle, sich bewusst und konsequent anzutrainieren, Gutes und Fortschritte zu erkennen und auch zu kommunizieren. Fortschritte gibt es immer, das heißt, wir können immer herausstellen, was heute gelingt, was ggf. gestern noch nicht gelungen ist! So geben wir nicht nur ein stärkendes Feedback, sondern verankern das Gelernte auch hervorragend im Kopf des Kindes. Wir können auch herausarbeiten, was besonders gut gelungen ist, wenn wir zum Beispiel verfasste Texte durchlesen oder erkennen, welche Hürden genommen wurden, wenn bestimmte Matheaufgaben gelöst wurden. Sie werden feststellen, dass dieses Mindset nicht nur unseren Kindern hilft, sondern es Ihnen mit dieser Haltung auch selbst viel besser gehen wird.
5. Rückzugs- und Ruhezeiten durch Regelungen absichern
Die Metapher von der Sauerstoffmaske im Flugzeug haben wir alle schon zigmal gehört. Klar, erstmal sich selbst helfen, bevor wir anderen helfen können. Erstmal selbst bei Kräften bleiben, bevor wir die Kraft für andere haben. Aber Kinder sind ja nun mal da und wir können ihnen nicht absagen, wie Termine mit Freunden und Bekannten. Woher nehmen wir jetzt die Me-Time?
Schaffen Sie sich selbst (einigermaßen sichere) Räume, indem Sie sich bewusst feste Zeitrahmen setzen. Legen Sie verlässliche Zeiten fest und schaffen Sie Rituale, die Ihnen Sicherheit und Erdung versprechen, zum Beispiel beim Nachhausekommen. Schicken Sie die Kinder beispielsweise mit einer Zeitvorgabe auf ihr Zimmer, wo sie sich so lange selbst beschäftigen, bis wieder eine gewisse Ordnung hergestellt ist und Sie Kopf und Hände für das Nächste frei haben.
6. Tag strukturieren
Eine gute Tagesstruktur ist der Erfolgsfaktor für einen rund laufenden Kinderalltag. Auch für den Fall, dass Sie selbst unregelmäßige Dienste haben oder als Typ gerne spontan und frei agieren möchten, empfehle ich, die eigene Tagesstruktur vorzudenken und immer wieder aktuell anzupassen und mit dem Partner:in neu zu verhandeln. Vielleicht stellen Sie fest, dass die Hausaufgabenkontrolle um 18:00 Uhr deutlich schwerer fällt als um 16:00 Uhr. Beziehen Sie das in Ihre Überlegungen ein. Vielleicht gibt es auch doch noch eine Möglichkeit mehr, sich mit anderen Eltern für eine Fahrgemeinschaft zusammenzutun! Tagesstrukturen sinnvoll zu verbessern, zahlt sich aus!
7. Zur Selbständigkeit erziehen
Eltern von heute wird häufig vorgeworfen, Helikoptereltern (allzeit bereit zum Eingriff) oder Rasenmähereltern (Hindernisse wegräumen, bevor sie erreicht werden) zu sein. Vielleicht sind wir aber am allermeisten eine Service Generation. Eine Generation, die ihre Kinder gerne etwas verwöhnen möchte und sich kurioserweise sogar schlecht fühlt, wenn gewisse Serviceleistungen nicht erbracht werden. Ein Vergleich dieser Serviceleistungen im Umfeld der Kinder kann solchen Gedanken Nahrung geben! Auch hier empfehle ich ein reflektiertes Vorgehen. Sehen Sie es als Erziehung zur Selbständigkeit, wenn Sie Ihre Kinder dabei einbeziehen, Handgriffe im Haushalt zu tätigen. Sehen Sie es als Schritt in die Eigenverantwortung, wenn sie sich selbst ihre Getränke machen, Zimmer aufräumen oder selbständig mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Schule fahren. Das ist kein Indikator für eine Service-Wüste, sondern vielmehr ein Symbol für die immer größer werdenden Schritte in ein eigenständiges Leben und die Heranbildung einer moderaten Anspruchshaltung, die die Kompatibilität in späteren Beziehungen fördert.
Was aus meiner Sicht das Allerwichtigste und über allem Stehende ist, ist, dass wir unseren Kindern Liebe und Sicherheit mitgeben. Das kann niemand so gut wie wir selbst für unsere eigenen Kinder.
Lieber tun wir weniger, aber dies mit einem ausdrücklichen inneren „Ja“.
Einem „Ja“ zum Zahnarzttermin und zur Fahrt zum Fußballturnier mit Treffen um 08:15 Uhr am Samstag? Ja! Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Kinder unseren Unmut spüren und fühlen, wenn wir „Nein“ denken und „Ja“ tun. Machen wir uns klar, dass es gar nicht so viel „Müssen“ gibt, sondern es vielmehr ein „Wollen“ ist, eine bewusste Entscheidung, die wir getroffen haben oder treffen dürfen. Üben Sie also immer wieder Ihr inneres „Ja“ zu Ihren Kindern, zur Situation und zu sich selbst und Ihrer Menschlichkeit. So werden Sie selbst und Ihre Kinder stresskompetenter.
Astrid Schroeder ist unter dem Namen WERTklar als Business Coach und Unternehmensberaterin im Gesundheitswesen tätig. Sie ist selbst Mutter zweier Kinder im Alter von 9 und 13 Jahren (Stand Januar 2023).
Mehr über Astrid Schroeder unter https://www.wertklar.de
Quellen
[1] 13% der Bevölkerung sind Kinder unter 14 Jahren, das sind ca. 11 Millionen Kinder in Deutschland im Jahr 2022. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Zahl-der-Woche/2022/PD22_22_p002.html#:~:text=22%20vom%2031.,Alter%20bis%20einschlie%C3%9Flich%2013%20Jahre.
[2] Was ist einer der größten Neujahrsvorsätze der Deutschen? Seit gut 12 Jahren wünschen sich die Befragten einer repräsentativen Forsa-Langzeitstudie im Auftrag der DAK-Gesundheit vorrangig, Stress zu vermeiden bzw. abzubauen. Zum Jahreswechsel 2022/2023 liegt dieser Wunsch mit 67% auf der Spitzenreiterposition (https://www.dak.de/dak/bundesthemen/gute-vorsaetze-2023-2594612.html#/).
[3] Es gibt Studien, die zeigen, wie hoch das Stressempfinden von Schülern inkl. somatischer Beschwerden ist (DAK Präventionsradar 2017: 43% der Schüler leiden unter Stress).https://www.dak.de/dak/bundesthemen/fast-jeder-zweite-schueler-leidet-unter-stress-2116176.html#<7).
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