Welche Auswirkungen hat die Pandemie langfristig, vor welchen Herausforderungen stehen pädagogische Fachkräfte in diesen Zeiten und was kann man Positives daraus ziehen? Diesen Fragen gehen wir mit Prof. Dr. Jörg Maywald, Experte für Kinderrecht und Kinderschutz, auf den Grund.
Vor welche Herausforderungen stellt die Corona Pandemie Kitas?
Wir müssen mit vermehrten Auffälligkeiten bei Kindern rechnen, also zum Beispiel starken Stimmungsschwankungen oder auch Verhaltensauffälligkeiten. Die Einschränkungen und Auswirkungen für Kinder können sehr vielfältig sein. Zum einen, was wir manchmal vergessen, auch Kinder haben die Erkrankung von Angehörigen miterlebt, bis hin zu Todesfällen, nicht unbedingt unmittelbar in der Familie, aber zum Beispiel bei Verwandten oder im Freundeskreis. Das ist eine der Belastungen. Was ebenfalls manchmal vergessen wird, wie sehr Kinder selbst Angst haben, sich anzustecken oder andere anzustecken. (...)
Sicherlich das Wichtigste: Die Bildungsgelegenheiten in Kita und Schule haben nicht mehr so wie gewohnt zur Verfügung gestanden. Wir müssen davon ausgehen, dass wir eine stärkere Spaltung in der Gesellschaft haben. Das heißt, es wird einen kleinen Anteil von Kindern geben, der durchaus gut durch diese Krise kommt. Es gibt Eltern, welche die Möglichkeit haben, sich in Krisenzeiten mit ihren Kindern zu beschäftigen und sie zu fördern. Aber wir werden eben auch einen großen Anteil von Kindern haben, der noch mehr abgehängt ist als vor der Krise.
Was hat es für langfristige Auswirkungen?
Was wir bereits wissen, ist, dass die psychische Gesundheit von Kindern deutlich angegriffen ist. Die sogenannte COPSY-Studie (Corona Psyche Studie) vom Uniklinikum Hamburg, hat den großen Vorteil, dass sie Vergleichsdaten aus der Zeit vor Corona zur Verfügung hat. Sie konnten genau beobachten, welche Veränderungen sich vollzogen haben. Der Studie zufolge hatten wir vor Corona ungefähr zwei von zehn Kindern, also etwa jedes fünfte Kind, die von starken psychischen Belastungen, zum Teil behandlungsbedürftig, betroffen waren. Jetzt, während Corona, insbesondere übrigens im Zuge der zweiten Welle, also um den Jahreswechsel 2020/2021 herum, ist dieser Anteil auf mehr als drei von zehn Kindern, also ungefähr jedes dritte Kind, gestiegen.
Das ist schon sehr besorgniserregend, weil es auch langfristige Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern signalisiert.
Vor welche Herausforderungen stehen die pädagogischen Fachkräfte?
Zum einen, wie schon erwähnt, werden die Fachkräfte vermehrt auf Kinder treffen, die selbst vor allem in seelischer Hinsicht sehr belastet sind, auch was Konflikte zu Hause angeht, gerade in sogenannten Problemfamilien. Auch die sogenannten ganz normalen Familien berichten, dass die Nerven wirklich blank lagen in den Hochzeiten der Pandemie. Diese Stimmungsschwankungen oder auch Auffälligkeiten, mit denen zu rechnen ist, stellen die Fachkräfte vor enorme Herausforderungen. Und auch das muss man betonen: Die Fachkräfte sind selbst Opfer dieser Pandemie. Das heißt auch sie leben häufig in Familien mit eigenen Kindern. Auch ihre Kräfte sind reduziert. Deshalb müssen wir auch vermehrt mit Fehlverhalten von Fachkräften rechnen. Das ist auch der Grund, warum aus meiner Sicht Selbstfürsorge und Solidarität im Team extrem wichtig sind in diesen schwierigen Zeiten.
Also meinen Sie, dass man da jetzt auch noch mal mehr den Fokus darauflegen sollte?
Ja genau, die Fachkräfte sollten jetzt besonders sensibel sein, sowohl mit Bezug zu den Kindern, aber auch auf ihr eigenes Verhalten bezogen. Es geht nun darum Standards zu entwickeln. (...) Was ist in Ordnung, was ist kindgerecht, an den Rechten von Kindern orientiert, aber eben auch, was ist nicht in Ordnung, weil es pädagogischen Standards nicht (mehr) entspricht. Gerade in solchen Krisenzeiten ist das ganz besonders notwendig.
Wie kann man als Fachkraft Kinder unterstützen, die Probleme haben?
Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Zum einen natürlich in der Kita selbst, im Rahmen der Möglichkeiten. Das heißt, sich mit Kindern intensiv zu befassen, also wahrzunehmen, sensibel zu sein für die Themen der Kinder. Und auch, das ist für Kinder sehr wichtig, dass sie Sicherheit erfahren über klare Strukturen und Regeln, die auf den Kinderrechten basieren. Im Rahmen dieser klaren Strukturen brauchen Kinder aber auch viele Freiheiten. Gerade in diesen Zeiten, benötigen sie besonders viel Bewegungsräume, Kreativ-Räume, wo sie ihre Themen ausdrücken können. Ich glaube, beides gehört zusammen:
Sicherheit zu geben in Form von überschaubaren Strukturen und auf der anderen Seite Freiräume, die ihnen ermöglichen, sich mit ihren Themen und Nöten auszudrücken.
(...) Einen weiteren Punkt möchte ich noch nennen: es liegt auf der Hand, dass die Möglichkeiten von Kitas begrenzt sind und wir auch aufpassen müssen, Kitas nicht zu überfordern. Das heißt, Eltern müssen ermutigt werden, dass sie sich, wenn Probleme auftreten, externe Hilfe holen zum Beispiel bei einer Erziehungsberatung, beim Jugendamt oder in einem sozialpsychiatrischen Zentrum. Da kommt Erzieher:innen eine sehr wichtige Vermittlerrolle zu, wenn sie die Eltern ermutigen und sie darauf hinweisen, dass sie Rechtsansprüche haben, auf Beratung beispielsweise oder auch auf therapeutische Unterstützung für ihr Kind. Denn nicht alles können Kitas selbst lösen.
Ja, und vielleicht das Gefühl vermitteln, dass es nicht schlimm ist, sich helfen zu lassen.
Genau! Wenn ein Kind sich den Arm bricht, ist es so selbstverständlich, sofort zum Arzt zu gehen. Warum ist das nicht so wenn ein Kind starke Ängste oder depressive Verhaltensweisen entwickelt? Dann sollte es eben genauso selbstverständlich sein, sich die entsprechenden Hilfen zu holen.
Was können die Kinder Positives aus dieser Zeit mitnehmen?
Ich freue mich über diese Frage! Denn wir müssen aufpassen, Kinder nicht nur als Verlierer der Krise abzustempeln. Deshalb habe ich auch Probleme mit dem Begriff “Corona-Generation.” Weil mit der Krise neben den Belastungen auch neue Lernerfahrungen verbunden sind.
Ganz allgemein haben Kinder, übrigens auch die Erwachsenen, die Erfahrung gemacht “Wir kriegen das hin.”
Also wir können mit einer Krise umgehen und wir lernen auch sehr viel in dieser Zeit. Aber auch konkret berichten uns Kinder beispielsweise in den Studien des Deutschen Jugendinstituts , dass sie noch nie so viel Zeit mit ihren Eltern verbracht haben und dies auch sehr genossen haben. Wobei man hier aufpassen muss, denn es gibt eben auch ein Teil der Kinder, die darunter gelitten haben, dass alle so eng aufeinander gesessen haben. Manche Kinder haben auch sehr darunter gelitten, dass es zum Beispiel keine Angebote wie Schwimmbäder, Sportvereine oder ähnliches über lange Zeit gegeben hat und die Eltern nicht in der Lage waren, entweder finanziell oder auch von ihren eigenen Möglichkeiten her, für Ausgleich zu sorgen. Aber es gibt durchaus auch das Gute im Schlechten, übrigens auch auf die Kitas bezogen und auf die Fachkräfte bezogen. Immer wieder höre ich auch Berichte, dass zu bestimmten Kindern, gerade wenn die Gruppen kleiner gewesen sind, sehr intensive Beziehungen aufgebaut werden konnten, was vorher nicht so der Fall gewesen war. Oder auch, dass die Kita im wörtlichen wie aber auch im übertragenen Sinne aufgeräumt hat. Also die Einrichtung sich konzeptionell neu aufgestellt oder auch die Räumlichkeiten neugestaltet hat. Also Dinge getan hat, für die lange keine Zeit gewesen ist.
Das wäre jetzt auch meine nächste Frage gewesen. Was können die Fachkräfte Positives aus dieser Zeit mitnehmen?
Dass es gerade in schwierigen Zeiten wichtig ist, Solidarität und Empathie zu zeigen. Das heißt, nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf den anderen, also die Kollegin/den Kollegen zu schauen. Das ist sicherlich eine positive Lehre. Ein weiterer Aspekt, den ich häufig höre, ist, wie wichtig Leitungen sind, die in Krisenzeiten ihre Mitarbeiter-Fürsorge und Pflichten wahrnehmen, aber auch einfach Krisenmanagement betreiben. Einerseits hat das bei den Leitungskräften zu hohen Belastungen geführt hat, andererseits aber auch zu einer neuen Wertschätzung ihrer Position geführt hat. Die Fachkräfte haben gemerkt, wie unverzichtbar gute Leitungen sind.
Eine abschließende Frage: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Da würde ich ganz gerne ein bisschen politisch werden, weil ich denke, dass wir über den pädagogischen Tellerrand hinausschauen müssen. Auf die frühe Tagesbetreuung, Bildung und Erziehung ganz generell bezogen, ist denke ich deutlich geworden, wie unverzichtbar dieser Bereich ist, auch gesellschaftlich unverzichtbar. Kinder gehen heutzutage sehr lange Zeit und sehr früh in die Tagesbetreuung und zugleich ist dieser Bereich strukturell stark unterfinanziert. Vergleichen Sie einmal die Ausstattung einer Kita-Beratung mit der eines Schulamts. Da liegen Welten zwischen – auch heute noch. Aber auch darüber hinausgehende Entwicklungen wie Kinderrechte ins Grundgesetz würde ich mir wünschen.
Es wäre so ein wichtiges Zeichen gewesen, die Kinderrechte in unsere Verfassung hineinzubekommen.
Aber jetzt nach der Bundestagswahl wird das Thema natürlich wieder auf der Agenda stehen und ich würde mir sehr wünschen, hier vor allem auch den Vorrang des Kindeswohls in unserem Grundgesetz verankert zu sehen, weil das, neben juristischen Aspekten, auch für das Bewusstsein in unserer Gesellschaft sehr wichtig wäre.
Ein letzter Punkt, der zwar weit in die Zukunft gedacht, aber durchaus nicht völlig utopisch ist: Ich glaube, wir müssen das Wahlrecht auf Kinder ausdehnen, denn die durchschnittlichen Wählerinnen und Wähler in Deutschland sind derzeit deutlich über 50 Jahre alt. Ich denke, dass die Interessen der Älteren dominierend sind. Wir haben ja bereits den Vorschlag, die Wahlaltersgrenze auf 16 abzusenken. Aber das sollte, glaube ich, nur ein Anfang sein. Gerade, wenn es um die großen Themen wie Klima oder Staatsverschuldung geht, sind die jungen Menschen im Vergleich zu den älteren so sehr betroffen, dass wir auch im Sinne von Generationengerechtigkeit die politischen Gewichte verschieben müssen.
Prof. Dr. Jörg Maywald, geboren 1955, Studium der Soziologie, Psychologie und Pädagogik in Berlin, Amsterdam und Paris, ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums. Von 1995 bis 2021 war er Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind. Seit 2002 ist er Sprecher der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, seit 2011 Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam, seit 2019 Mitglied des Bundesjugendkuratoriums.
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