Ein Artikel von Melanie Krause
„Partizipation“- ein Begriff, der mittlerweile fest etabliert ist in pädagogischen Ausbildungen, der in jeder pädagogischen Einrichtung früher oder später fällt, der mittlerweile Einzug erhalten hat in den Bildungsleitlinien und somit in unserem pädagogischen Bildungsauftrag und der sogar in Art.12 der UN-Kinderrechtskonvention aufgeführt wird: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihres Entwicklungsstands an allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen.“ Unicef führt als eines der zehn wichtigsten Rechte der Kinder die „Freie Meinungsäußerung und Beteiligung“ auf:
Bildquelle: unicef.de
Die Mitbestimmung und Beteiligung von Kindern im pädagogischen Alltag ist also sogar ein Recht der Kinder, welches wir als Pädagogen:innen als eine Selbstverständlichkeit im pädagogischen Alltag integrieren sollten. Partizipation ist aber auch ein Begriff, dessen Definition und Bedeutung häufig unklar ist und Angst machen kann. Auf der einen Seite, da man sich fragt, wie der Auftrag, die Kinder im pädagogischen Alltag zu beteiligen umsetzen und ermöglichen soll und auf der anderen Seite, da der Begriff von Pädagogen:innen unterschiedlich gedeutet, gewichtet, und somit auch gelebt wird.
Im Allgemeinen bedeutet Partizipation so viel wie Teilhabe, Mitbestimmung, Beteiligung, Mitwirkung, Mitsprache, Einbeziehung.¹
„Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden.“ ²
Partizipation in den Alltag zu integrieren, kann Unsicherheiten erzeugen, weil es keinen klaren Handlungsstrang gibt, an dem ich mich entlang hangeln kann. Ich muss als Pädagoge oder Pädagogin erst einmal in die Selbstreflexion gehen und mir die Frage stellen “Wie viel ich den Kindern, die ich betreue, überhaupt zutraue und inwieweit ich dazu bereit bin, ‘Macht’ abzugeben?”. Kinder eigene Entscheidungen treffen zu lassen, die ich möglicherweise anders getroffen hätte, wie bei Regenwetter draußen keine Regenhose zu tragen, wie einen Nachtisch zu essen, ohne vorher etwas anderes gegessen zu haben, wie bei einem Konflikt erst einmal eigene Lösungswege finden zu lassen etc., auch immer ein Stück weit „Machtabgabe“ bedeutet. Das fällt uns Erwachsenen nicht immer ganz leicht.
Viele Pädagogen:innen, mit denen ich über das Thema Partizipation spreche, fassen diesen Begriff so auf, dass „Kinder plötzlich alles alleine entscheiden dürfen und alles machen dürfen, was sie wollen.“ Dies stimmt so aber nicht ganz. In der Definition von Richard Schröder (s. S.1) ist ganz klar davon die Rede, Entscheidungen in der Gemeinschaft zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass auch wir als Fachkräfte ein Teil der Gemeinschaft sind, ebenso wie die Leitung der Einrichtung in der wir arbeiten, die Köche:innen, unser/e Hausmeister:in, unsere Praktikanten:innen usw.. Dies bedeutet also, dass auch wir unsere Meinung mit einbringen dürfen und sogar sollten. Wir sollten den Kindern ein Vorbild sein, selbstbewusst unsere Meinung äußern und dennoch anderen aktiv zuhören. Wir zeigen und äußern, dass es unterschiedliche Meinungen gibt, die alle angehört und toleriert werden und dass wir einander ausreden lassen. Außerdem sollten wir vorleben, dass Lösungen für Probleme oder Entscheidungen diskutiert werden können, und dass demokratisch eine Lösung gefunden werden kann.
Partizipation als Schlüssel zu Demokratie
In dem wir Kindern eine Stimme zugestehen und sie dazu ermutigen, ihre eigene Meinung zu äußern und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, legen wir den ersten Grundstein zum Demokratieverständnis. Kinder lernen, dass es unterschiedliche Meinungen gibt und dass alle Meinungen zählen. Sie lernen auch, dass man die Meinungen der anderen aushalten muss und dass in einer demokratischen Entscheidung nicht immer der eigene Wunsch erfüllt wird, sondern der der Mehrheit. So beispielsweise bei der Abstimmung zu einem Ausflugsziel.
Hier finde ich es grundsätzlich erst einmal wichtig, Kinder von Anfang bis Ende in den Partizipationsprozess mit einzubeziehen. Dies bedeutet, im ersten Schritt zu besprechen, welche Ausflugsziele in der Umgebung überhaupt zur Wahl stehen und diese dann nicht selbst aufzuzählen, sondern von den Kindern selbst malen oder fotografieren zu lassen. Dann kann jedes Kind einen eigenen Stein (optimal einen selbst gestalteten, individuellen Abstimmstein, aber auch Muggelsteine, Korken, Muscheln etc. sind möglich) auf das gewünschte Ausflugsziel legen. Im Anschluss daran wird je nach Alter gemeinsam oder von den Kindern alleine die Anzahl der Steine gezählt. Danach steht fest, wo der nächste Ausflug hingehen wird.
Aber Partizipation bedeutet mehr, als demokratische Entscheidungen zu treffen.
Partizipation bedeutet auch, dass Kinder in alle gemeinschaftlichen Abläufe eingebunden werden und Verantwortung übernehmen (dürfen). In vielen Kitas werden die Tische für das Essen immer noch von den Mitarbeiter:innen gedeckt, das Essen wird von den Fachkräften aufgefüllt und getrunken wird aus Plastikbechern. Daran ist erst einmal natürlich nichts schlecht oder verwerflich. Partizipation bedeutet aber auch, routinierte Abläufe zu hinterfragen, zu reflektieren und ggf. anzupassen. Denn Kinder gehen darin auf, Verantwortung und Aufgaben zu übernehmen. Sie erfahren dadurch Selbstwirksamkeit, Akzeptanz, Gruppenzugehörigkeit und Anerkennung. Im Folgenden einige Anregungen, wie Kinder mehr in den pädagogischen Alltag mit einbezogen, oder routinierte Handlungsabläufe ggf. hinterfragt werden können:
Gemeinsam mit den Kindern ein System für Tischdienst entwickeln (Tisch decken, Obst schneiden…)
Dürfen sich die Kinder selbst Essen auffüllen und entscheiden, was und wie viel sie essen?
Darf der Morgenkreis auch mal ausfallen, wenn die Kinder gerade im Spiel sind? Muss der Morgenkreis immer zu einer festen Uhrzeit stattfinden? Wer entscheidet über das „Programm“ des Morgenkreises? Kann der Kreis auch von den Kindern angeleitet werden?
Gebe ich den Kindern bei Konflikten eine Lösung vor, oder lasse ich sie erst einmal selbst nach einer Lösung suchen/unterstütze sie dabei?
Wer entscheidet, was draußen angezogen wird? Wer entscheidet, ob es warm oder kalt ist?
Bin ich den Kindern eine Anleitung, oder eine Begleitung?
Nehme ich Kinder einfach auf den Schoß oder auf den Arm, oder frage ich sie und achte ihre Grenzen und ihren Raum?
Lasse ich die Kinder entscheiden, wer sie wickelt und wann sie gewickelt werden?
Müssen die Kinder Hausschuhe tragen?
Habe ich genügend Möglichkeiten in den pädagogischen Alltag eingebaut, in denen die Kinder äußern können, was sie im Alltag beschäftigt, mit welchen Themen sie sich gerade auseinandersetzen, was es zu besprechen gibt…?
Höre ich den Kindern aktiv zu und nehme sie wahr?
Gibt es ein Beschwerdeverfahren in meiner Einrichtung, das auch von den Kindern genutzt werden kann? Gibt es eine Möglichkeit, dass die Kinder äußern können, was ihnen gefällt und was nicht?
Bewerte ich Gefühle der Kinder („Das ist nicht so schlimm, du musst nicht weinen“) oder gestehe ich ihnen ihre Gefühle zu („Ich sehe, dass du wütend bist. Es ist in Ordnung, wütend zu sein.“)
Lasse ich die Kinder Fehler machen?
Partizipation bedeutet nicht nur, dass Kinder selbstständig Entscheidungen treffen können und ihre Meinung äußern, sondern auch, dass sie selbst die Konsequenzen ihrer Handlungen und Entscheidungen wahrnehmen und auch „Fehler“ machen dürfen. Entscheidet ein Kind beispielsweise, dass es draußen keine Jacke tragen möchte und äußert dann nach fünf Minuten auf dem Außengelände, es sei doch zu kalt und geht rein, um eine Jacke zu holen, äußern viele Fachkräfte oft etwas wie „Siehst du, habe ich dir doch gleich gesagt.“ Dabei ist es großartig, wenn ein Kind dies merkt, denn so lernt es, sich selbst zu spüren und wahrzunehmen, eigenständig Entscheidungen zu treffen, aber diese auch ggf. anzupassen und Lösungen für entstandene Probleme zu finden.
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass Partizipation kein Begriff ist, den man mal gehört hat und direkt wieder vergessen kann, sondern dass es ein Recht der Kinder ist, beteiligt und gehört zu werden. Deshalb müssen wir uns alle auf den Weg machen, den Kindern eine Stimme zu geben und sie als eigenständige und selbstwirksame Persönlichkeiten wahrzunehmen.
Partizipation als Haltung
Partizipation ist kein Begriff, sondern vielmehr eine Haltung. Wie ist mein Bild vom Kind, wie viel traue ich ihm zu? Kann ich es aushalten, mich auf ergebnisoffene Prozesse einzulassen und Kinder eigene Entscheidungen treffen zu lassen? Kann ich flexibel sein und es aushalten, dass Angebote oder Prozesse eine andere Richtung einschlagen, als ich es geplant habe? Bin ich den Kindern ein authentisches Vorbild?
Hierbei ist es mir wichtig zu betonen, dass es kein „richtig“ oder falsch“ gibt. Nicht alles muss direkt verändert werden. Wenn ich mich als Fachkraft nicht wohl dabei fühle, dass ein Kind draußen keine Mütze trägt im Winter, kann ich auch nicht authentisch sein. Wichtig finde ich es, sich immer wieder selbst zu hinterfragen: Was sind meine Ängste und Befürchtungen? Wie viel traue ich den Kindern zu? Welche Möglichkeiten gibt es, die Kinder immer mehr und öfter an Entscheidungen zu beteiligen?
Ich wünsche allen Pädagogen:innen viel Freude und Mut daran, die Kinder im Alltag zu beteiligen, sich auf den Weg zu begeben, altbekannte Strukturen loszulassen und Neues auszuprobieren, Fehler zu machen und sie als Chance zu sehen und den Kindern eine Stimme zu geben. Dabei nicht zu vergessen: Jeder darf seine Meinung auch mal ändern und anpassen, die Kinder sowieso, aber auch wir Erwachsenen. Denn nur so wachsen wir und entwickeln uns weiter.
1: Wikipedia
2: Richard Schröder 1995, Leiter des ersten Kinderbüros „Pro Kids“ in Deutschland
Melanie Krause ist 29 Jahre alt und arbeitet seit 8 Monaten als stellv. Leitung in einer Kita mit Elementarkindern. Vorher war sie dort fünf Jahre lang als Erzieherin im Gruppendienst tätig. Seit 2019 gibt sie als Referentin Seminare, hauptsächlich im Bereich Partizipation und Bild vom Kind/pädagogische Haltung. "Ich nehme Kinder als eigenständige Persönlichkeiten wahr, die wie alle Menschen ein Recht darauf haben, gesehen und gehört zu werden, weshalb es mir sehr viel Freude bringt, Seminare zum Thema Partizipation zu geben" so Melanie.
~ Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind bereits welche."~ Janusz Korczak
Comments