„Das Auge sieht nur, was der Geist bereit ist, zu begreifen.“
Henri-Louis Bergson
Ein Artikel von Annette Reisinger
Was ist Wahrnehmung?
Wahrnehmung ist das Produkt zweier nacheinander ablaufender Prozesse, dem Prozess der Informationsaufnahme und dem Prozess der Informationsverarbeitung.
Wahrnehmung ist eine allgemeine Bezeichnung für den Informationsgewinnn durch Umwelt- und Körperreize. Dabei wird unterschieden zwischen der inneren und der äußeren Wahrnehmung. Die innere meint die Körperwahrnehmung wie Gefühle, die äußere meint die Umweltwahrnehmung wie die Mitmenschen und Dinge.
Die Wahrnehmung ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, denn jeder Mensch hat individuelle Gedächtnisinhalte, Stimmungen und Denkprozesse, sowie eine unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Komponenten zueinander. Während einige Menschen eher bildlich denken, orientieren sich andere eher an anderen Sinneseindrücken und Erfahrungen, wie z.B. Schmerz u. Glück.
Die Gesamtheit aller Vorgänge von Sinneswahrnehmung bezeichnet man auch als Sensorik.
In der Pädagogik spielen vor allem Wahrnehmungsstörungen und das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) eine Rolle.
Wahrnehmungsstörungen
Eine Wahrnehmungsstörung ist eine Störung in der Aufnahme, Weiterleitung und/oder Verknüpfung der Informationen von Sinnesreizen. Bei einer gestörten Wahrnehmung existiert ein Widerspruch zwischen dem Reiz und der Wahrnehmung. Die Sinneseindrücke werden dabei zu wenig gefiltert um sinnvoll verarbeitet werden zu können bzw. wirken sie zu stark auf das Gehirn ein. Denn ohne die Tätigkeit des Gehirns können z.B. psychische Funktionen wie Sprache, Denken, Bewegung und Emotionen gar nicht ablaufen. Die Folge sind dann „unangemessene“ Reaktionen und Handlungen wie Entwicklungsauffälligkeiten und/oder Lernstörrungen. Das Problem kann aber auch im peripheren Nervensystem liegen.
Durch die gestörte Reizverarbeitung im Gehirn werden die Botenstoffe im Gehirn durch Unebenheiten im Hirnstoffwechsel nicht mehr genügend produziert oder zu rasch wieder abgebaut. Eine geordnete Informationsverarbeitung ist nicht mehr gewährleistet.
Es spielen mehrere Faktoren eine Rolle, die zu einer Wahrnehmungsstörung führen können:
-biologische Faktoren: Interaktion von Biologie mit gearteten Umweltreizen wie Allergien, Reizarmut, Bewegungsmangel, Nahrungsmittelunverträglichkeit oder Geburtsschäden
-soziale Faktoren: frühkindlicher Stress; Traumata; Misshandlungen; Vernachlässigungen oder gestörte Familiensysteme bzw. Umgebungsbedingungen wie Scheidung der Eltern oder schnell wechselnde bzw. unstrukturierte und/oder chaotische Tagesabläufe.
Kindliche Neugier - stärkster Entwicklungsmotor - führt zu den vielfältigsten Aktivitäten. Und je mehr unsere Kinder Gelegenheit haben, auf die Anregungen ihrer Umwelt zu reagieren, desto mehr werden sie zum aktiven Handeln herausgefordert. Alle auf diese Weise gewonnenen Eindrücke erreichen über Nervenbahnen das kindliche Gehirn. Dort werden sie gespeichert, verknüpft und verarbeitet. So verdichten sie sich zu Erkenntnissen, die unseren entdeckungslustigen Kindern als Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zur Verfügung stehen. Gleichzeitig bilden diese Erfahrungen die Grundlage der kindlichen Persönlichkeit.
Sehen, hören, schmecken, tasten... ein Katalog der Sinne
Häufig ist im Alltag vom "siebten Sinn" die Rede. Auch in der Wissenschaft spricht man in der Regel von den sieben Sinnsystemen des Menschen:
Sehen - die visuelle Wahrnehmung der Welt über das Auge
Hören - mit Hilfe des auditiven Systems ist man "ganz Ohr"
Tasten, Fühlen - die Haut bestimmt als größtes Organ den taktilen Sinn
Riechen - immer der Nase nach, so funktioniert das olfaktorische System
Schmecken - das gustatorische System bringt uns mit der Zunge auf den Geschmack
Körperliche Bewegungen wahrnehmen - das kinästhetische System umfasst den Sinn für Raum-, Zeit-, Kraft- und Spannungsverhältnisse der eigenen Bewegung
Gleichgewicht halten - dank des vestibulären Systems bleiben wir in der Balance
Wirklich gute Voraussetzungen, um mit allen Sinnen die Welt zu erkunden. Doch unsere technisierte und oft bewegungsfeindliche Lebenswirklichkeit fördert zumeist nur einseitiges Erleben. Sie verhindert, dass Kinder ungezwungen und frei Sinneseindrücke aller Art sammeln können. Natur und Alltag werden vielfach nur noch aus zweiter Hand erlebt: via Fernsehen, Computer, Automaten und vorgefertigter Lebensmittel. Das führt sowohl zu Reizüberflutung als auch zu Erfahrungsarmut. Die Folgen bleiben nicht aus. Jedoch obliegt es nicht uns Pädagogen, eine Diagnose zu den Störungen oder Defiziten bei Kindern zu stellen. Vielmehr geht es um ein genaues Wahrnehmen und Beobachten der Kinder und Familien durch die pädagogischen Fachkräfte, um dann gemeinsam, im Sinne der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft mit Eltern, gute und annehmbare Lösungen für alle zu finden.
Was sagt denn unser Bildungsplan dazu?
Mit Blick auf die aktuellen Erkenntnisse der Hirnforscher und Neurobiologen hält man am Prinzip der Ganzheitlichen Bildung fest. Lernen geschieht in Kindertageseinrichtungen im Alltag. Wenn kleine Kinder lernen, dann lernt immer das „ganze Kind“. Kinder lernen nachhaltig mit Freude und Begeisterung, was sie momentan interessiert und emotional bewegt. Ausgangspunkt einer ganzheitlichen Bildungspraxis sind aktuelle Situationen, die Kinder interessieren und begeistern. Dies lässt sich am besten realisieren, wenn Lernen überwiegend in Alltagssituationen passiert.
Sinnliche Wahrnehmung spielerisch fördern
Tagtäglich können wir Wahrnehmung fördern, indem wir spielerisch das Zusammenspiel aller vorhandenen sinnlichen Bereiche stimulieren und fördern. Schließlich wissen wir als Fachkräfte am besten, wo die sinnlichen Stärken der Kinder liegen. Bieten wir ihm deshalb die Möglichkeit, nicht nur seinen bevorzugten Sinneskanal weiterzuentwickeln, sondern ganzheitliche Erfahrungen zu sammeln. So können wir das sinnliche Spektrum erweitern, indem wir Kinder die Augen für die vielfältigen Erfahrungsbereiche der Alltagswelt öffnen: die raue Baumrinde, das Gurren der Tauben, der Geschmack frischen Basilikums, der Kletterstapel im Hof.
Kinder von 0-3 Jahren brauchen zu ihrer Beschäftigung also in erster Linie Alltagsmaterialien, deren Funktion nicht festgelegt ist, damit sie sie umfunktionieren können. Die Beschaffenheit der Materialien sollte zum Experimentieren und Gestalten anregen. Kriterien dafür sind die Konsistenz, die Verfügbarkeit, die Mehrdimensionalität und die Handhabbarkeit.
Alle möglichen Küchenutensilien
Decken, Tücher zum Einwickeln, Zudecken
Spiegel
Naturmaterialien (Kastanien, Sand, Feuerbohnen)
Fühlwannen
Montessori Tablets
Kartons zum Verstecken
Taschen, Körbe, Geldbörsen, Koffer
Glitzerflaschen
Matschküche
„Verhaltensauffällig“ bedeutet nur, dass es jemanden gibt, dem einen bestimmtes Verhalten auffällt. Es sagt überhaupt nichts über das Verhalten selbst und noch weniger über denjenigen der sich verhält aus. Aber es sagt viel über den aus, dem das Verhalten auffällt – Stefan Hiene
Annette Reisinger ist Trainerin, Beraterin, Coach und freiberufliche Dozentin bei Weiterbildungs- und Fortbildungsinstituten, sowie Fachschulen im Bereich Kindertageseinrichtungen. Außerdem ist sie staatlich anerkannte Erzieherin und war in verschiedensten Bereichen tätig. Die Betreuung und Bildung der unter Dreijährigen Kinder, sowie das Forschen und Entdecken in Funktionsräumen mit Aufforderungscharakter sind zwei ihrer vielen Herzensthemen der Pädagogik.
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