Ein Artikel von Marion Milbradt
Um sich gesund entwickeln zu können benötigt ein Kind vor allen Dingen Liebe, Halt und Orientierung.“, sagt Marion Mildbradt und verweist auf ihre langjährige Erfahrung als systemische Familientherapeutin in unterschiedlichen Feldern der Kinder-und Jugendhilfe. In diesem Artikel nimmt sie die Ursachen für die steigenden Zahlen an sozial-emotionalen Entwicklungsverzögerungen und -störungen von Kindern in den Blick.
Heute werden die Kinder zunehmend mehr mit Fragen überfordert: „Willst du am Wochenende an den Rhein oder an die Mosel fahren und was können wir noch für dich tun, damit es dir besser geht?" Zum einen ist es für Eltern oftmals eine große Herausforderung, ihr Kind an seinen eigenen Krisen wachsen zu lassen zum Anderen haben immer mehr Eltern Schwierigkeiten damit, ihrem Kind als Erwachsene zu begegnen und mit gutem Gefühl, freundlich, bestimmt und gelassen ihr Kind an Grenzen zu sättigen.
Erziehen können wir ein Kind nur dann, wenn wir gerade nicht mit dem Kind auf einer Ebene stehen.
Eltern wissen oft nicht, dass sie mit jeder gesetzten Grenze, dem Kind ein Stück Halt und Sicherheit geben und die Eltern – Kind – Beziehung sich nicht verschlechtert, sondern daran wächst. Im Resultat wird das Kind ruhiger und fröhlicher und wir nehmen es dem Kind ab, weiter nach Grenzen fragen zu müssen und in der Folge anhaltend reglementiert zu werden. Vor diesem Hintergrund sage ich auch zu den Fachleuten in meinen Seminaren: „Die Kinder, welche sich am meisten auf Sie freuen, sind jene, welche Sie am meisten herausfordern“.
Ich vertrete in meinen Seminaren drei Grundaussagen: Kinder zeigen wie auf einem Foto, was wir leben. Nehmen wir die gleiche Schulklasse, werden wir feststellen, dass ein Lehrer ein Problem damit hat, sich durchzusetzen und ein anderer kann bei den gleichen Schülern seinen Unterrichtsstoff ohne Störungen vermitteln. Ein Verhalten kann ein Kind nur zeigen, wenn es den Raum dazu hat. Es kann nur dann Grenzen überschreiten (den Spielkameraden hauen), wenn es von den Erwachsenen gelassen wird. Ich spreche in meinen Fortbildungen nicht von den zunehmenden Kinderkrankheiten. Vielmehr behaupte ich, dass, wenn unsere Kinder heute an irgendetwas erkrankt sind, dann an der Unsicherheit ihrer Eltern, an der Unsicherheit unserer Gesellschaft (einer falsch verstandenen Partizipation) hinsichtlich dessen, was ist wichtig ist und worauf es ankommt, was benötigt ein Kind, um sich gesund zu entwickeln.
Mit jeder gesetzten Grenze geben wir dem Kind ein Stück Halt, Sicherheit und Orientierung mit auf den Weg und erhalten in der Konsequenz einen Zuwachs an Beziehung.
Vor dem Hintergrund meiner Hypothese haben wir aktuell ein wachsendes gesellschaftliches Problem: Ein Kind, welches am Morgen verbal oder körperlich die Grenzen der Eltern überschreitet, geht mit herabgesetzter Hemmschwelle in die Welt und macht genau das an anderer Stelle (Kindergarten, Schule) wieder. Halten wir darauf eine Lupe, ist dieses im Kleinen gelebte Verhalten jenes, welches im Großen gesellschaftliche Gewalt bedeutet (Grenzen überschreiten). Ein Kind, welches von zu Hause aus, satt ist an liebevollen Grenzen, wird in der Schule nicht über Tische und Bänke springen.
Die Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten und damit verbunden die Zunahme an oftmals überflüssigen Diagnosen, führe ich auf den Sachverhalt zurück, das der Raum den Kinder haben (im konkreten und übertragenen Sinne) in den vergangenen Jahren angewachsen ist. Unsere Kinder heute, müssen sehr weit gehen, um eine Grenze zu erhalten. War es vor vielen Jahren das Allerschlimmste, wenn ein Kind die Bananenschale nicht in den Mülleimer, sondern daneben geworfen hat, werden heute Pädagogen getreten, bespuckt und verbal beleidigt.
Mir geht es darum, die Grundbedürfnisse eines Kindes zu befriedigen und ich spreche in diesem Zusammenhang von Liebe, Halt und Orientierung. Es geht immer darum dem Kind zu signalisieren, dass es Selbst in seiner Persönlichkeit in Ordnung ist, sein Verhalten an dieser Stelle jedoch nicht. Halt und Orientierung wird im Wesentlichen durch Grenzen setzen vermittelt. Damit meine ich das Kind ruhig, freundlich, gelassen und wertschätzend an Grenzen zu sättigen. Ein Kind, welches im pädagogischen Kontext die Grenzen eines Erwachsenen überschreitet, wird erst Recht die Grenzen eines Gleichaltrigen oder jüngeren Kindes übergehen. Daraus resultiert, dass wir den Schutz der gesamten Gruppe nur gewährleisten können, wenn wir jedes Kind halten können. Erfolgreiches Grenzen setzen heißt, dass wir weniger Grenzen setzen, mit dem Ziel das jeder Kampf mit dem Kind aufhört. Ich spreche von Kindern, welche in ihrem Erziehungsrahmen keinen Halt finden, Kinder, welche nicht in sich ruhen, sondern Kinder, welche außer sich sind (unruhig und zappelig). Kinder, welche keine Puzzle zu Ende bringen können, ohne gleichzeitig nach Grenzen zu suchen. Das kindliche Bedürfnis danach Grenzen zu erfahren, kann nicht weg therapiert werden, sondern muss befriedigt werden.
„Eltern wissen oft nicht, dass sie mit jeder gesetzten Grenze, dem Kind ein Stück Halt und Sicherheit geben und die Eltern – Kind – Beziehung sich nicht verschlechtert, sondern daran wächst“
Marion Milbradt ist Diplom-Sozialpädagogin und systemische Familienberaterin. Sie ist Multiplikatoren für Elternkurse und Fachlehrerin für Pädagogik. Seit 2015 leitet sie die pädagogische Fortbildungspraxis in Hachenburg. Website: marion-milbradt.de
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